Curriculum Vitae
Ernst Karl Bernhard Hermann Wahle gehörte zu jener Generation deutscher Prähistoriker, deren Lebensspanne nahezu die gesamte Phase umfasste, in der sich die urgeschichtliche Archäologie von einer maßgeblich von Laien und Autodidakten getragenen, in Altertumsvereinen organisierten Bewegung zur etablierten akademischen Disziplin entwickelte. Ungeachtet einiger weniger Museumskuratoren, ungeachtet auch erster Ansätze einer professionellen Bodendenkmalpflege gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts weder eine geregelte Ausbildung noch eine verbindliche, allseits anerkannte Methodik; die Grenzen zur Anthropologie und Geologie, aber auch zur Ethnologie waren noch fließend. Durchaus bezeichnend für den Status des Faches zu dieser Zeit ist eine Episode, die Wahle selbst in einer biographischen Skizze schildert. Zu Beginn seines Berufslebens stellte sich der frischgebackene Prähistoriker bei einem fachfremden Professor vor, der ihn freundlich empfing, auf die in Wahles Visitenkarte eingetragene Berufsbezeichnung aber etwas ratlos reagierte.
Am 25. Mai 1889 in Magdeburg geboren, verlebte Ernst Wahle seine spätere Kindheit und Jugend im anhaltinischen Delitzsch, wo der Vater als Direkter der städtischen Realschule beschäftigt war. Erste Begegnungen mit der prähistorischen Archäologie fallen in diese Jahre. 1908 nahm Wahle ein Studium der Germanistik und Geschichte in Halle-Wittenberg auf, um noch im selben Jahr nach Berlin zu wechseln, wo er sich für Philosophie einschrieb und außer in Philosophie auch Lehrveranstaltungen in Geschichte, Anthropologie, Völkerkunde, Geologie, Geographie und „Deutsche Archäologie“ besuchte. Das letztgenannte Fach, damals die einzige, erst seit wenigen Jahren bestehende Professur dieser Art, wurde von Gustaf Kossinna (1858-1931) vertreten, und es war offenbar eine persönliche Begegnung mit dem nicht unumstrittenen, im Umgang mit Fachgenossen oft recht zänkischen Gelehrten, die den Ausschlag für Wahles Studienortwechsel gab.
Schon während seiner Hallenser und Berliner Studienjahre trat der Student mit eigenen Veröffentlichungen in Fachzeitschriften hervor. So publizierte er als 22jähriger einen Aufsatz, der sich nichts Geringeres zum Thema vorgenommen hatte als die vorrömische Eisenzeit im Saalegebiet. Ab dem Sommersemester 1911 setzte Wahle sein Studium in Heidelberg fort, wo er 1913 bei dem Geographen Alfred Hettner und dem Klassischen Archäologen Friedrich von Duhn über das Thema „Ostdeutschland in jungneolithischer Zeit, ein prähistorisch-geographischer Versuch“ promoviert wurde. In Heidelberg hat er dann den Lebens- und Wirkungskreis gefunden, den er bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen sollte. Im Mai 1914 beauftragte ihn die Stadt mit dem Aufbau der Sammlungen, eine Aufgabe, die er nach kriegsbedingter Unterbrechung 1919 wieder aufnahm und 1921 abschloss. Parallel dazu hatte sich Wahle 1920 habilitiert, wieder bei Hettner und erneut mit einer siedlungsarchäologischen Arbeit: „Die Besiedelung Südwestdeutschlands in vorrömischer Zeit nach ihren natürlichen Grundlagen“. In Dissertation und Habilitation ist bereits das Thema angeschlagen, das Dreh- und Angelpunkt seiner künftigen wissenschaftlichen Arbeit werden sollte. Dieser konnte er in der Folgezeit allerdings nur einen Teil seiner Arbeitskraft widmen, zwang ihn doch die schwierige ökonomische Situation in den Anfangsjahren der Weimarer Republik zum beruflichen Spagat. Nach einigem Hin und Her wurde Wahle 1922 zum „Oberpfleger der frühgeschichtlichen Denkmäler im nördlichen Baden“ ernannt und erhielt im gleichen Jahr einen Lehrauftrag für Vorgeschichte und Deutsche Archäologie an der Universität Heidelberg. Als Oberpfleger war Wahle zuständig für sämtliche Bodenfunde von der Altsteinzeit bis in das Mittelalter. Angesichts fehlender Hilfskräfte und kärglicher finanzieller Ausstattung eine von einem Einzelnen kaum wirklich zu bewältigende Aufgabe. Um Öffentlichkeit wie Fachpublikum gleichermaßen zu informieren, rief er 1925 die „Badischen Fundberichte“ ins Leben, nachdem er zuvor seine Fundbeobachtungen und Grabungsberichte vor allem in der Tagespresse veröffentlicht hatte.
Sehr zäh und über Jahre hinweg ohne durchschlagendes Ergebnis verliefen hingegen Wahles Bestrebungen um die institutionelle Verankerung des Faches Vorgeschichte an der Heidelberger Universität. Zwar war ihm 1924 die nichtplanmäßige außerordentliche Professur verliehen worden, in der deutschen Gelehrtenwelt mit ihren subtilen Hierarchien und fein ziselierten Distinktionen trennten ihn damit jedoch Welten von den Gipfelhöhen des erstrebten Ordinariats. Auch die Einrichtung eines selbständigen Instituts für Vor- und Frühgeschichte wurde noch 1932 vom zuständigen Ministerium mit der knappen Begründung abgelehnt, man sehe dafür keinen Bedarf. Solche Schwierigkeiten waren durchaus symptomatisch für ein Fach, dem von den Vertretern älterer, bereits etablierter Disziplinen wahlweise die Wissenschaftlichkeit oder jegliches ästhetisches Empfinden abgesprochen wurde und das wegen seiner Nähe zu den Naturwissenschaften nur schwer in den traditionellen Fächerkanon einzuordnen war. In Reaktion darauf wurde von Prähistorikern gerne und mitunter sehr prononciert die „nationale“ Bedeutung vorgeschichtlicher Funde herausgestellt, was wiederum nicht ohne Einfluss auf die personelle Zusammensetzung sowohl des Faches als auch seiner Rezipienten blieb.
Viele deutsche Archäologen, und Ernst Wahle gehörte zu ihnen, erwarteten daher vom „Dritten Reich“ eine kräftige Belebung ihrer Wissenschaft, bediente sich doch die neue, auf die Überlegenheit der nordischen Rasse gegründete Ideologie nur zu gerne im Arsenal der Vorgeschichtsforschung - und wurde von dort auch bereitwillig versorgt. „So leuchtet mit dem Sieg der nationalsozialistischen Bewegung auch für die deutsche Vorgeschichtsforschung das Morgenrot der Freiheit“, schrieb 1934 in einem für ihn eher ungewöhnlich pathetischen Duktus der Heidelberger Vorgeschichtler Wahle. Anders als nicht wenige Fachkollegen, die sich nur zu gern in verschiedene Suborganisation von Partei und SS einbinden ließen und dort Karriere machten, wahrte er aber eine gewisse Distanz. Zwar trat auch er 1937 der NSDAP bei; affirmative Stellungnahmen zu Politik, Ideologie und Herrschaft des Regimes bleiben - von oben der zitierten abgesehen - aber rare Ausnahmen. Immerhin erhielt Wahle 1935 erstmals eine feste Planstelle an der Universität. 1937 wurde er dann zum „Außerordentlichen Professor“ ernannt und erhielt im folgenden Jahr das planmäßige Extraordinariat für Vor- und Frühgeschichte und war seitdem auch offiziell Leiter der Lehrstätte für Frühgeschichte der Universität Heidelberg. Um sich künftig ausschließlich auf den universitären Betrieb konzentrieren zu können, gab er 1938 die Leitung der nordbadischen Bodendenkmalpflege ab. In diese Zeit fallen erste wissenschaftliche Ehrungen; 1935 die Mitgliedschaft in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und 1936 die Ehrenmitgliedschaft der Royal Irish Academy in Dublin. Mit dem Ende der NS-Diktatur wurde Wahle zunächst aus dem Lehrbetrieb entlassen, nach einem Entnazifizierungsverfahren aber schon 1946 wieder eingestellt. An der Universität Heidelberg vertrat er das Fach Vor- und Frühgeschichte noch bis zu seiner Emeritierung 1957. Verstärkt widmete er sich nun der Geschichte des Faches, der schon früher sein Interesse gegolten hatte; mehrere von ihm betreute Dissertationen zeugen davon.
Auch nach dem Ausscheiden aus dem universitären Betrieb blieb Wahle aktiv; der schon immer sehr fleißige Rezensent verfasste vor allem Besprechungen zu Arbeiten aus der gesamten Breite der prähistorischen Archäologie. Mit der Mitwirkung am „Historischen Atlas von Baden-Württemberg“ und der Ernennung zum Ehrenmitglied der „Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg“ anlässlich seines 90. Geburtstages 1979 schloss sich thematisch gewissermaßen der Kreis. Im Jahr darauf erschien seine Autobiographie, wenige Monate später starb Ernst Wahle am 21. Januar 1981 in Heidelberg.
(Christian Gildhoff)