Der Wissenschaftler
Die klassische griechische Literatur war es auch, von denen aus Preisendanz wissenschaftliches Neuland betrat. In jeweils kurzen Artikeln, die 1909 und 1910 erschienen, äußerte er sich erstmals zu zwei Themen, die ihn in seinem Leben lang nicht mehr loslassen sollten: Zum Pariser Zauberpapyrus der Bibliothèque Nationale und Zur griechischen Anthologie lauteten die Titel der beiden Aufsätze. Zauberpapyri, zumeist in griechischer Sprache verfasst, sind, wie der Name schon andeutet, eine sehr spezifische religionsgeschichtliche Quellengattung, in denen es um unterschiedliche Formen des Schadenszaubers geht. Preisendanz gehörte dabei zu den ersten, die sich mit diesen bis dahin von den klassischen Altertumswissenschaften als zu profan angesehenen Zeugnissen der antiken Alltagskultur auseinandersetzte. Über die Beschäftigung mit den Zauberpapyri weitete er sein Forschungsinteresse auf das Gebiet der antiken Religionsgeschichte insgesamt aus, und publizierte darüber immer wieder bis zu seinem Lebensende; nahezu alljährlich erschienen Veröffentlichungen zu Detailproblemen.
Welche philologische Akribie und Scharfsinn, aber auch was für umfangreiche Kenntnisse des antiken Geisteslebens die Erschließung der Papyri erforderte, hat Franz Dirlmeier in seinem Nachruf gewürdigt. 1928 erschien der erste, 1931 der zweite Band der Papyri Graecae Magicae; ein dritter, gerade im Druck befindlicher Band verbrannte 1943 in Leipzig. Preisendanz‘ umfassende Kenntnis des Stoffes führte dazu, dass er 1931 für den Beitrag zur Papyruskunde im „Handbuch der Bibliothekswissenschaft“ herangezogen wurde und 1933 das bis heute als Standardwerk geltende Buch Papyrusfunde und Papyrusforschung veröffentlichte.
Sein zweites großes Thema war die Anthologia Palatina (oder Anthologia Graeca), eine Sammlung von ca. 4000 griechischen Epigrammen bekannter und unbekannter Dichter des 7. vor- bis 6. nachchristlichen Jahrhunderts, in einzelnen Ausläufern gar bis in das 10. Jahrhundert reichend. Die ursprünglich in der Bibliotheca Palatina verwahrte Handschrift (Codex Palatinus graecus 23) teilte im Dreißigjährigen Krieg deren Schicksal und gelangte 1622 in die Vatikanische Bibliothek. Dabei wurde sie beschädigt und zerbrach in zwei Teile. 1797 wiederum als Kriegsbeute nach Paris verschleppt, kam der umfangreichere der beiden Bände nach den Befreiungskriegen wieder zurück nach Heidelberg, während der zweite Teil (Parisinus Suppl. Gr. 384) in Paris blieb. Preisendanz veröffentlichte 1911 eine fotographische Reproduktion, in der erstmals beide Teile wieder vereint wurden (Anthologia Palatina, codex Palatinus et codex Parisinus phototypice editi, Leiden 1911). Die Fortführung seiner Arbeiten an der Anthologia war dann auch der Grund für seine Forschungsreisen in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg. Besonders mit diesen beiden Forschungsfeldern, der Editionen und Untersuchungen zur Anthologia Palatina und der Papyrusforschung, die ihn sein Leben lang begleiteten, erwarb sich Preisendanz einen wissenschaftlichen Ruf, der weit über Deutschland hinausging. Zahlreiche Beiträge in „Paulys Realenzyklopädie“ sowie in Roschers „Lexikon der griechischen und römischen Mythologie“ zeugen aber auch von seiner Reputation als Spezialist zu den unterschiedlichsten altertumswissenschaftlichen Themen.
Dass Preisendanz ein neues Aufgabenfeld auch wissenschaftlich produktiv nutzte, zeigte sich unmittelbar bei der Übernahme der Leitung der Karlsruher Handschriftenabteilung. Seine dortige editorische Aufgabe erweiterte er zu vielfältigen Spezialstudien, gerade zum Kloster Reichenau, seiner Schreibschule, seiner Bibliothek und einzelnen Schreibern, wie etwa Reginbert von Reichenau und Walahfried Strabo, aber auch zu einzelnen Handschriften. Ausgehend von seiner beruflichen Tätigkeit arbeitete sich Preisendanz in die unterschiedlichsten Gebiete der Geistesgeschichte Südwestdeutschlands zwischen Mittelalter und Gegenwart ein. Von seinen Karlsruher Jahren an wandte er sich insbesondere Leben und Werk des in Pforzheim geborenen humanistischen Philosophen Johannes Reuchlin zu. Philologische und bibliothekarische Interessen überschnitten sich bei Preisendanz’ Beschäftigung mit dem bedeutenden Gräzisten Friedrich Sylburg (1536-1596), dem er später seine Aufmerksamkeit zuwandte, und der wie auch Hieronymus Commelinus (ca. 1550-ca. 1597) und Jan Gruter (1560-1627) zu jenem am pfalzgräflichen Heidelberger Hofe wirkenden Kreis humanistischer Gelehrter gehörte. Am Beispiel von Sylburg lassen sich auch die vielfältigen inhaltlichen Vernetzungen im wissenschaftlichen Œuvre von Preisendanz nachweisen, hatte sich doch bereits Friedrich Creuzer mit Sylburg beschäftigt, der als Bibliothekar an der Palatina arbeitete, für die er einen Katalog der griechischen Handschriften erstellte. Sein späteres Arbeitsgebiet praktisch vorwegnehmend, führte ihn schon Anfang der 1920er Jahre das Interesse für den spätmittelalterlichen Minnesänger Johannes Hadlaub zur Manessischen Liederhandschrift (oder umgekehrt?); ein Thema, dem er sich später in Heidelberg aus nachvollziehbaren Gründen immer wieder zuwandte.
Literarisch und musisch vielfältig interessiert, berichtete Preisendanz von Karlsruhe aus nicht nur regelmäßig aus dem örtlichen Kulturleben über Theater- und Musikaufführungen, sondern verfasste auch zahlreiche feuilletonistische Beiträge für Tageszeitungen, deren Themen er seinem breiten wissenschaftliche Werk entnahm, die aber auch seine fast unerschöpfliche intellektuelle Neugier dokumentieren. Sein Spektrum reichte dabei von Ausgrabungen bei Karlsruhe, mittelalterliche Handschriften und dem Reichenauer Kreuzreliquiar, über „altrömische Mietkasernen“, Barockbauten am Bodensee bis zu Hölderlin. Umgekehrt dürften diese Interessen auch seiner wissenschaftlichen Arbeit zugutegekommen sein, wie etwa die Herausgabe des Briefwechsels zwischen Karoline von Günderode und Friedrich Creuzer (1771-1858) zeigt, der bereits 1912 erschien. Diese Edition leistete nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der deutschen Romantik, sondern auch zu Leben und Werk des lange Jahre in Heidelberg lehrenden Professors für klassische Philologie Creuzer. Preisendanz literarische Neigungen wiederum bezeugt das von ihm in den Jahren 1951-1960 herausgegebene Gesamtwerk des Schriftstellers Emanuel von Bodman (1874-1946). Dessen Haus im schweizerischen Gottlieben war Treffpunkt zahlreiche Künstler und Intellektueller, wie Ludwig Klages, Rainer Maria Rilke oder Hermann Hesse, mit seiner Witwe Clara verband ihn eine lebenslange Brieffreundschaft.