Tutorium Augustanum
Gegenstand und Sinn der Alten Geschichte
Bevor die Frage nach Abgrenzung und Bedeutung der Alten Geschichte selbst gestellt werden kann, muss man sich zunächst allgemein darüber klar werden, was "Geschichte" überhaupt ist bzw. sein kann. Im landläufigen Sprachgebrauch wird kaum zwischen der Vergangenheit an sich und "Geschichte" als einer spezifischen Rekonstruktion dieser Vergangenheit unterschieden. Daran sind die seit der Antike für das Genre Geschichtsschreibung konstitutiven Wahrheits- und Vollständigkeitstopoi nicht unschuldig. Das meist aus dem Zusammenhang gerissene und gedankenlos zitierte Ranke-Diktum, Aufgabe des Historikers sei es zu zeigen, "wie es eigentlich gewesen", ist nur die moderne Umsetzung dieser antiken Tradition.
Die neuere Geschichtstheorie hat diesen Wahrheitsanspruch kritisch hinterfragt. So ungebrochen wie Ranke wird kaum ein zeitgenössischer Historiker mehr an die Objektivität seiner Darstellung glauben. Vielmehr gehört die Einsicht in die Konstruktivität von Geschichte heute zu den methodischen Fundamenten des Faches. Das gilt auch und gerade für die Alte Geschichte, die meist auf eine ausgesprochen mangelhafte Quellenbasis zurückgreifen muss und deren Ergebnisse entsprechend vielfach nicht mehr (aber auch nicht weniger!) als die jeweils plausibelsten Hypothesen zur Deutung der vorliegenden Quellen darstellen.
Gerade diese problematische Quellenlange ist es aber auch, die der Alten Geschichte eine besonders intensive Reflexion über die Aussagekraft und Reichweite jeder einzelnen Quelle abverlangt. Dieses hohe Reflexionsniveau wäre bei größerer Materialfülle, wie sie in den neueren historischen Epochendisziplinen regelmäßig vorliegt, allerdings auch kaum durchzuhalten. Die Quellenarmut der Alten Geschichte hat also eine negative und eine positive Seite: Einerseits muss unsere Kenntnis der Antike notwendig lückenhaft bleiben, andererseits ist die Beschäftigung mit den spärlichen Quellen in besonderer Weise geeignet, das quellenkritische Bewusstsein zu schärfen.